Nathaniel Rateliff entblößte sich am vergangenen Sonntagabend vollends vor dem Publikum des Berliner Lido und legte sein Herz in ihre Hände. Wie ein Sturm brausten seine Gefühle über die Köpfe der Zuschauer hinweg.

Während sich Nathaniel Rateliff im Vorzelt des Lido noch einen Drink genehmigt, bereiten seine Sängerkollegen ihm bereits den Weg in die Herzen des Publikums. Gregory Alan Isakov, ein Amerikaner mit südafrikanischen Wurzeln und Geva Alon aus Tel Aviv/Israel eröffnen den Abend in Berlin in Singer/Songwriter-Manier mit der Gitarre um den Hals. Beide wissen auf ihre Art und Weise durch Einzigartigkeit zu bestechen. Ist es bei Gregory Alan Isakov der Vocoder, den er gelegentlich nutzt, um seiner Stimme eine fremdartige Färbung zu verleihen, so ist es bei Geva Alon die Loop Station, die seinen Songs das gewisse Etwas verleiht. Dank Overdubbing gelingt es ihm auch als Soloact auf der Bühne so kraftvoll zu klingen wie eine ganze Band.

Review: Nathaniel Rateliff im Lido Berlin

Wie ein kleiner frecher Junge tritt er auf die Bühne: die Haare zerzaust als wäre er gerade erst aufgestanden, die Augen mühevoll weit aufgerissen, eine runde Stupsnase mitten im Gesicht und ein wenig Babyspeck auf den Hüften, sodass das Hemd über dem Hosenbund spannt. Kindchenschema erfüllt! Hätte er nicht die Arme übersät mit rätselhaften Tattoos, einen großen Ring mit türkisfarbenem Stein am linken Ringfinger und ein Whiskeyglas in der Hand, würde er gar als Unschuldslamm durchgehen. Seine in die Jahre gekommene Klampfe um den Hals gebunden beginnt er zu singen. Alles um ihn herum ist still.

Die warmen, weichen Klänge seiner Gitarre und seiner Stimme vereinen sich und ziehen wie eine sanfte Brise über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Bis es plötzlich aus ihm heraus bricht. Die seichten Winde blähen sich zu einem Sturm der Gefühle auf, der das Publikum sichtlich hinweg weht. Nathaniel Rateliff nimmt uns mit auf eine Reise durch seine Seele.

Immer wieder nippt er zwischen den Songs an seinem Glas Whiskey. Muss er sich Mut antrinken? Dies schiene im Angesicht seiner zutiefst emotionalen Songs wohl verständlich. Wer sich dermaßen vor seinem Publikum entblößt, der braucht vielleicht einfach eine gewisse Form geistiger Umnachtung, die der gute alte Whiskey wohl auszulösen vermag, um sich nicht vollends nackt zu fühlen.

Wenn er singt scheint sich alles um ihn herum zu drehen, sein Innerstes kehrt sich hervor, man hat das Gefühl direkt in seine Seele schauen zu können. Er macht sich damit verletzbar, angreifbar, zugleich aber scheint es eine Stärke seiner selbst seine Gefühle so in Worte kleiden zu können, dass sie andere Menschen tief berühren.

Er ist gar so in sich und seiner Musik versunken, dass er inmitten eines Songs plötzlich innehält, verwundert aufschaut und nahezu peinlich berührt zugeben muss, dass sich das Ende des Liedes gerade irgendwo in seinen Gedankengängen verloren hat: „Oh sorry… It never happened before.“ Das Publikum sieht es ihm wohlwollend nach, klatscht anerkennend und hilft ihm die Situation schnell zu überspielen. Und schon geht die Reise weiter durchs Gefühlslabyrinth Nathaniel Rateliffs.

Am Ende des Konzertes bricht das Publikum in tosenden Beifall aus. Als Nathaniel sichtlich erschöpft zurück auf die Bühne kehrt, verspricht er einen weiteren Song zu spielen. „One before the last.“, tönt es aus dem Publikum. „Only three more, please.” Die Schweißperlen rinnen ihm über die Stirn. Mit solch einer Resonanz hatte der Sänger, der vormals als Support von Mumford und Sons zu erleben war, wohl nicht gerechnet. Tatsächlich lässt er sich zu zwei Zugaben hinreißen und verabschiedet sich erschöpft, aber gleichsam erstaunt und glücklich.

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