Chilly Gonzales sorgte am gestrigen Abend in der Volksbühne Berlin für ein Konzerterlebnis der ganz besonderen Art. In Morgenmantel und Hausschuhen entfachte er ein lauschiges Lagerfeuer, erfand das Stagediving neu, erteilte Orchesterlehrstunden und trat für die Rechte der Frau ein. Gonzspiration pur!

Eingehüllt in einen dunkelblau schimmernden Morgenmantel, die welligen Haare lässig zur Seite gekämmt, so dass sich seine hohe Stirn entblößt, schlurft er mit leicht lädierten grünen Pantoffeln, die den Blick auf am Hacken durchlöcherte Socken freigeben, auf die Bühne. Nein! Das ist weder ein Schlafwandler, noch ein Verrückter, der der Nervenheilklinik entflohen ist. Obwohl: Ein bisschen verrückt ist er schon, der Herr Jason Beck, der mal mit und mal ohne Chilly, aber doch meist als Gonzales seine musikalischen Wege beschreitet.

Chilly Gonzales: Ein musikalisches Genie in der Volksbühne Berlin

„I said I was a musical genius, I repeated it till it became meaningless.”, singt Gonzales in „Self Portrait“, dem zweiten Song vom aktuellen Album “The Unspeakable”, auf dem er gekonnt Orchester und Rap vereint. Wahrlich: Ein musikalisches Genie, das ist er! Und so wird er auch auf der Berliner Volksbühne nicht müde dies kundzutun, auch wenn er das eigentlich nicht müsste. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock!

Arrogant, hochnäsig, übermütig könnte einem sein Gerede zeitweise fast vorkommen… wenn da nicht diese gnadenlose Selbstironie wäre, der Chilly Gonzales sich hin und wieder fast unbemerkt bemächtigt. Beispielsweise stellt er mit einem Augenzwinkern klar, dass ein musikalisches Genie, zwar die bloße natürliche Gabe besitze Musik aktiv zu folgen und sie wissenschaftlich zu analysieren, nicht aber automatisch auch über Geschmack und Talent verfüge.

Chilly Gonzales und das Fuck-Luck-Orchestra

Nach Berlin hat Gonzales sein treues Gefolge, das „Fuck-Luck-Orchestra“, mitgebracht. Die Volksbühnen-Besetzung besteht dabei aus insgesamt 9 Musikern aus Hamburg und Berlin. Ein klassisches Streichquartett (2 Violinen, 1 Bratsche, 1 Cello), zwei Blech- und zwei Holzbläser (Horn, Posaune, Oboe, Querflöte) und ein Schlagzeuger ermöglichen Gonzales die Live-Umsetzung seines Rap-Orchester-Projektes „The Unspeakable“. Wie das klingt? Mal schaurig, mal traumhaft schön. Mal eingängig poppig, mal klassisch arrangiert, oder sogar avantgardistisch experimentell.

Gonzrobatik: Stagediving einmal anders

Neben diesem musikalischen Hochgenuss, den Gonzo da auf der Bühne preisgibt, weiß er das Publikum außerdem durch ironisch-amüsante Anekdoten und akrobatische Einlagen in seinen Bann zu ziehen. Ob als Solo-Pianist, wie ihn alle kennen und lieben, oder als feuriger Redner. Gonzales macht keine halben Sachen!

Während er das Klavier mit seinen stürmisch leidenschaftlichen Griffen nahezu foltert und wie im Blutrausch hart aber rhythmisch in die Pedale tritt, wirft er seinen Kopf übermütig von vorn nach hinten, so dass sein Schweiß sich über Klavier und Bühne ergießt.

Plötzlich springt er auf, greift das Mikrofon und steuert entschlossen auf die vorderen Publikumsreihen zu. Ein Fuß auf der nächstgelegenen Stuhllehne, sich mit den Händen links und rechts auf den Köpfen der Zuschauer abstützend, bahnt er sich seinen Weg über die Stuhlreihen hinweg durchs Parkett. Stagediving à la Gonzo! Abgefahren!

Dann beleidigt er klassische Musiker im Allgemeinen und Herbert von Karajan im Speziellen. War schon keiner Frau die Ehre zu Teil geworden bei Karajans Wiener Philharmonikern zu spielen, so sollte wenigstens die einzige weibliche Musikerin des Fuck-Luck-Orchesters die Möglichkeit bekommen sich in einem Solopart zu präsentieren.

Als die sympathische Flötistin neben dem vor Schweiß triefenden Gonzales Platz nimmt, zündet er auf seinem iPad ein Lagerfeuer an, um die Stimmung noch ein wenig lauschiger zu gestalten. Wenn Schleichwerbung, dann aber mit Stil!

Außerdem trommelt er allen Geburtstagskindern im Saal ein „Happy Birthday“ auf den Bongos und spielt zu Ende des Konzerts sogar ein Stück „kopflos“ unter dem Klavier.

„Did you ever think about a headless pianist?“ – Zitat Chilly Gonzales

Warum nun aber Rap und Orchester? Die einfache Antwort:

„I want to be a man of our time. “ – Zitat Chilly Gonzales

Eine einfache Antwort auf eine knifflige Frage. Chilly Gonzales versucht schlicht und einfach sich stets weiterzuentwickeln, sich und seine Musik immer wieder neu zu erfinden, niemals zum Stillstand zu kommen. Eben: ein Mann seiner Zeit zu sein. Und so scheint es für ihn nahezu eine göttliche Fügung, dass Rap und Orchester irgendwann zusammenfinden mussten.

Fazit

Chilly Gonzales spielte gestern Abend in Berlin wahrscheinlich DAS Konzert des Jahres 2011. Humorvoll, ironisch, laut, leise, gefühlvoll, aggressiv, selbstbewusst aber auch kritisch stellte er sich dem Publikum dar. Er ist nicht nur der selbstverliebte Künstler, als der er sich gibt. Er ist auch und vor allem ein herausragender Entertainer und Live-Musiker.

Gonzales hat es wieder einmal geschafft ein einzigartiges musikalisches Werk zu kreieren. „The Unspeakable“ besteht aus Elementen, die heterogener nicht sein könnten und fügt sich doch zu einem homogenen Ganzen. Ein klangliches Erlebnis – auf CD und live!

In diesem Sinne: “You still really don’t like rap??? Maybe you are racists!” – Zitat Chilly Gonzales

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